EuGH, C-27/22: Schlussanträge des Generalanwalts v. 30.3.2023

Keine Sanktion gegen Volkswagen in Italien wegen „Dieselgate“?

Nach Ansicht von Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona kann Volkswagen in Italien nicht wegen „Dieselgate“ sanktioniert werden, nachdem das Unternehmen in Deutschland sanktioniert worden war, wenn zwischen den Sanktionsverfahren beider Staaten keine ausreichende Koordinierung erfolgt ist. Die von den italienischen Behörden verhängte Sanktion könnte strafrechtlicher Natur sein und - wenn festgestellt wird, dass die Tat mit der bereits in Deutschland geahndeten Tat identisch ist - gegen das Recht verstoßen, für dieselbe Tat nicht zweimal bestraft zu werden.

Die Volkswagen Gruppe brachte weltweit 10,7 Millionen Dieselfahrzeuge in Verkehr, die mit einer Einrichtung zur Veränderung der Messung der Schadstoffemissionen ausgestattet waren. 700 000 dieser Fahrzeuge wurden in Italien verkauft.

Am 4. August 2016 verhängte die italienische Wettbewerbs- und Marktaufsichtsbehörde gegen Volkswagen und ihre italienische Tochtergesellschaft eine Geldbuße in Höhe von fünf Mio. Euro, weil der Verkauf dieser Fahrzeuge und die für diese verbreitete irreführende Werbung – bei der betont wurde, dass die Fahrzeuge den Vorgaben der Umweltschutzvorschriften entsprächen – unlautere Geschäftspraktiken darstellten. Volkswagen focht die Geldbuße (die sich auf den Höchstbetrag für eine Zuwiderhandlung dieser Art belief) vor den italienischen Gerichten an.

Im Jahr 2018 stellte die Staatsanwaltschaft Braunschweig, die in Deutschland ein Strafverfahren gegen Volkswagen eingeleitet hatte, diesem Unternehmen für das weltweite Inverkehrbringen der genannten Fahrzeuge und die für diese verbreitete Werbung einen Bußgeldbescheid über eine Mrd. Euro zu. Volkswagen focht diese Sanktion nicht an und zahlte die Geldbuße am 18. Juni 2018.

Am 3. April 2019 wies ein italienisches Gericht die Klage von Volkswagen im ersten Rechtszug ab, obwohl das Unternehmen in Deutschland rechtskräftig zur Zahlung der Sanktion verurteilt worden war. Das Gericht war der Ansicht, dass die von der italienischen Wettbewerbs- und Marktaufsichtsbehörde verhängte Sanktion eine andere Rechtsgrundlage habe, so dass der Grundsatz ne bis in idem einer Sanktionierung des Unternehmens in Italien nicht entgegenstehe.

Volkswagen legte gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel beim italienischen Staatsrat ein, der sich mit einem Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof wandte, um ihm verschiedene Fragen zur Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem zu stellen.

Als Erstes möchte der Staatsrat wissen, ob Verwaltungssanktionen wie diejenigen, die in Italien gegen Volkswagen verhängt wurden, strafrechtlicher Natur sind und in den Anwendungsbereich von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union fallen.

In seinen Schlussanträgen führt der Generalanwalt Manuel Campos Sánchez-Bordona aus, dass es Sache des Staatsrats sei, zu prüfen, ob die Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur sind. Dabei seien i) die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht; ii) die Art der Sanktion sowie iii) der Schweregrad der drohenden Sanktion zu berücksichtigen. Nach Ansicht des Generalanwalts ist die in Deutschland verhängte Sanktion strafrechtlicher Natur. Gleiches gelte für die in Italien verhängte Sanktion. Trotz des Umstands, dass Letztere im italienischen Recht als Verwaltungssanktion eingestuft werde, sei auch sie wegen ihres repressiven Zwecks und ihrer Schwere strafrechtlicher Natur.

Als Zweites verstößt nach Ansicht des Generalanwalts eine Sanktion wie diejenige, die von der italienischen Wettbewerbs- und Marktaufsichtsbehörde gegen eine juristische Person (Volkswagen) verhängt werde, die sich unlauterer Geschäftspraktiken bedient habe, grundsätzlich gegen das Recht, wegen derselben Tat nicht zweimal verurteilt zu werden (Art. 50 der Charta), wenn diese juristische Person wegen derselben Handlungen bereits früher in einem anderen Mitgliedstaat (Deutschland) rechtskräftig strafrechtlich verurteilt worden ist.

Der Generalanwalt führt aus, dass im vorliegenden Fall ein Nebeneinander von Sanktionsverfahren bestehe, von denen das deutsche Verfahren mit einer rechtskräftigen Sanktion geendet habe, so dass zu prüfen sei, ob es in beiden Verfahren um dieselben Handlungen (objektive Identität) gehe und ob sie sich gegen dieselbe Person (subjektive Identität) richteten.

Zwar vertritt der Generalanwalt die Auffassung, dass es Sache des Staatsrats sei, dies zu prüfen, jedoch ist er der Meinung, dass die beiden Verfahren dieselbe juristische Person (Volkswagen) beträfen und dass der sanktionierte Sachverhalt in tatsächlicher und zeitlicher Hinsicht identisch sei. Wenn dem so sein sollte, könnte das in Art. 50 der Charta garantierte Grundrecht verletzt worden sein.

Als Drittes möchte der Staatsrat wissen, ob in diesem Fall eine Ausnahme vom Grundsatz ne bis in idem gerechtfertigt sein könnte.

Herr Campos Sánchez-Bordona führt aus, dass Einschränkungen dieses Grundrechts bestimmten Voraussetzungen unterlägen: i) die Kumulierung der Sanktionen müsse gesetzlich vorgesehen sein, ii) sie müsse den Wesensgehalt des Rechts achten, iii) es müsse ein Grund des Allgemeininteresses vorliegen und iv) die Einschränkung müsse den Grundsätzen der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit entsprechen.

Im vorliegenden Fall seien die Voraussetzung der Verhältnismäßigkeit und der Erforderlichkeit der Grundrechtseinschränkung problematisch. Ein vom Staatsrat bei der Beurteilung beider Voraussetzungen zu berücksichtigender Gesichtspunkt sei gerade die Koordinierung der Sanktionsverfahren und der Nachweis eines hinreichend engen sachlichen und zeitlichen Zusammenhangs zwischen diesen beiden Verfahren. Diese Koordinierung scheine es im vorliegenden Fall nicht gegeben zu haben.

Obwohl in einigen Bereichen des Unionsrechts Verfahren zur Koordinierung vorhanden seien, gebe es hier keinen besonderen Koordinierungsmechanismus, den die nationalen Behörden verwenden könnten. Der Generalanwalt betont insoweit, dass es schwierig sei, die Voraussetzung der Koordinierung anzuwenden, wenn es zu einer Kumulierung von Sanktionsverfahren komme, die in zwei Mitgliedstaaten von Behörden mit unterschiedlichen Zuständigkeitsbereichen durchgeführt würden, und es keinen rechtlichen Mechanismus zur Koordinierung ihrer Maßnahmen gebe.

Daher schlägt Herr Campos Sánchez-Bordona vor, dem Staatsrat zu antworten, dass es nicht zulässig sei, das Grundrecht, wegen derselben Tat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden, einzuschränken, wenn bei der Kumulierung gleichzeitig geführter Verfahren und der Verhängung von Sanktionen durch nationale Behörden zweier oder mehr Mitgliedstaaten mit unterschiedlichen Zuständigkeitsbereichen keine ausreichende Koordinierung erfolgt sei.
 

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 04.04.2023 15:38
Quelle: EuGH PM Nr. 56 vom 30.3.2023

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